– Gegenwärtigkeit als Antwort auf eine offene, fragmentierte Zukunft –
In der zunehmend digitalisierten Welt steht der menschliche Körper als Medium des Erlebens und der Selbstverortung vor neuen Herausforderungen. Die Nähe zur Welt wird nicht mehr selbstverständlich über den physischen Leib hergestellt.
Der Körper wird nicht zuletzt in der digitalen Welt häufig als funktionales Objekt oder als Oberfläche sozialer Erwartungen erlebt, statt als lebendiger Ursprung von Selbst- und Weltbezug, was für ein demokratisches Miteinander unumgänglich ist. Dementsprechend bedarf es mehr denn je bewusste Zugänge zum eigenen Körpererleben – einer leiblichen Gegenwärtigkeit. Der Rückbezug auf den eigenen Körper kann als ein Widerstand gegen die Entfremdung der digitalen Welt verstanden werden. Das bedeutet nicht die Ablehnung digitaler Medien, sondern vielmehr ihre Integration in ein bewusstes, leibliches Erleben.
Die Inner Development Goals (IDGs), ein Rahmenwerk für persönliche, soziale und ökologische Transformation, bieten in diesem Zusammenhang wertvolle Orientierung. Sie betonen die Bedeutung innerer Fähigkeiten wie Selbstwahrnehmung, Präsenz, Mitgefühl, kritisches Denken und Zielgerichtetheit – Kompetenzen, die eng mit einem bewussten und achtsamen Bezug zum eigenen und zum Sozialkörper verbunden sind.
Leibhaftigkeit als Grundlage innerer und äußerer Entwicklung
Ein zentrales Anliegen der IDGs ist die Stärkung des Selbstbewusstseins und der emotionalen Intelligenz. Diese Fähigkeiten sind ohne leibliche Rückbindung nicht denkbar. Die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, beginnt nicht im Kopf, sondern im Körper: in Empfindungen, Spannungen, Bewegung und Stille. Der Unterschied zwischen „Körper-Haben“ vs. „Leib-Sein“ wird damit zur Grundlage innerer Bildung. Während der Körper als Objekt betrachtet und manipuliert werden kann, ist der Leib das subjektive Spürfeld, durch das Welt erschlossen wird. Diese Differenz zeigt sich bereits in der frühkindlichen Entwicklung: Kinder erleben sich zuerst als „Leib“, erst später entwickeln sie ein Konzept vom eigenen Körper. Durch die Anpassung an gesellschaftliche Normen (z. B. Kleidung, Scham) wird aus dem Leib zunehmend ein „Körper-für-andere“. Jedoch bleibt, wer seinen Körper nur als Objekt oder Leistungsträger begreift, von jenen Qualitäten abgeschnitten, die für nachhaltige innere und gesellschaftliche Transformation erforderlich sind.
Warum nun die Inner Develoment Goal’s?
1. Being – Beziehung zu sich selbst
Die Dimension „Being“ zielt auf Selbstwahrnehmung, Präsenz und innere Ausgeglichenheit. Leiblichkeit ist hier zentral: Wer mit dem eigenen Körper achtsam umgeht, entwickelt ein tieferes Selbstbewusstsein. Körperwahrnehmung – z. B. durch Achtsamkeit, Bewegung oder Stilleübungen – fördert die Fähigkeit, im Moment zu sein.
Pädagogisch bedeutet das: Kinder und Erwachsene brauchen Erfahrungsräume, in denen sie lernen, sich in Sicherheit zu wiegen, um sich in ihrem Leib selbst zu spüren – jenseits von Leistungs- oder Schönheitsdruck.
2. Thinking – Kognitive Fähigkeiten
Kritisches Denken, Perspektivwechsel und Reflexionsfähigkeit sind nicht rein mentale Prozesse. Sie werden durch ein verkörpertes, leibliches Selbstverständnis unterstützt. Wer z. B. lernt, körperliche Reaktionen als Hinweis auf innere Konflikte oder kognitive Dissonanz zu deuten, entwickelt ganzheitliche Urteilsfähigkeit.
Pädagogisch hilfreich sind hier Methoden wie embodied learning, bei denen kognitive Inhalte über körperliche Erfahrung erschlossen werden.
3. Relating – Beziehung zu anderen
Empathie, Mitgefühl und echte Verbindung gründen auf der Fähigkeit zur affektiven Resonanz. Diese ist tief im Körper verankert – etwa im Tonfall, in Blicken, Berührungen oder im nonverbalen Miteinander. Wer leibhaftig anwesend ist, kann sich besser auf andere einstellen. In der Bildung können Rituale, Gruppenprozesse, Körperübungen oder Theaterspiel die körperliche Selbst- und Fremdwahrnehmung stärken.
4. Collaborating – Kollektive Fähigkeiten
Kooperation erfordert mehr als Organisation: Sie lebt von Vertrauen, gegenseitigem Spüren und dem Zusammenspiel auf körperlich-emotionaler Ebene. Eine gute Zusammenarbeit beginnt dort, wo Menschen sich auch in ihrer Leiblichkeit als Teil eines lebendigen Ganzen verstehen.
In pädagogischen Kontexten sollten daher Gruppenprozesse Raum für körperliche Ko-Präsenz schaffen (z. B. über Bewegung, gemeinsames Bauen, Gestalten oder Improvisation).
5. Acting – Veränderung in der Welt bewirken
Handlungsfähigkeit entsteht nicht nur aus Wissen, sondern auch aus einem Gefühl von Leibhaftigkeit, Entschlossenheit und Verantwortlichkeit. Unser Körper ist der Ort, an dem Handlung beginnt – durch Haltung, Körperspannung, Bewegung.
Pädagogisch heißt das: Wer junge Menschen zur Veränderung befähigen will, muss sie ermutigen, über den eigenen Körper Selbstwirksamkeit zu erfahren (z. B. in Projekten wie Lernen durch Engagement, in denen sie aktiv gestalten, handeln und sichtbar werden).
Leibliche Gegenwärtigkeit und Resonanz
In einer Welt, in der die Virtualisierung zunimmt, ist der Rückbezug auf den eigenen Leib ein notwendiger Prozess, um sich selbst zu verorten. Leibliche Gegenwärtigkeit schafft die Voraussetzung für authentische Resonanz mit anderen – ein Schlüsselthema der IDGs im Bereich „Connecting“.
Die Fähigkeit, empathisch zu sein, auf Augenhöhe zu kommunizieren oder Kooperationen zu gestalten, ist mit unseren Körpern gekoppelt und leiblich verankert. Resonanzbeziehungen und demokratische Prozesse entstehen dort, wo Menschen einander mitfühlend begegnen – in Präsenz, mit Aufmerksamkeit und Offenheit.
Die Herstellung von Gegenwärtigkeit sollte dementsprechend nicht nur ein individuelles, sondern auch ein kulturelles und pädagogisches Anliegen sein.
Die IDGs fordern dazu auf, Entwicklungsräume zu schaffen, in denen Menschen sich in ihrer Ganzheit entfalten können. Bildung muss daher Räume eröffnen, in denen körperliche Erfahrungen, leibliches Spüren und soziale Resonanz zentrale Bestandteile sind – etwa durch Bewegung, achtsamkeitsbasierte Methoden, Ausdrucksformen wie Tanz oder Theater, oder durch Naturerfahrung.
Die Wiederentdeckung unseres Körpers – unserer Leibhaftigkeit als Quelle der Gegenwart ist ein Schlüssel für eine tiefgreifende Transformation – individuell wie gesellschaftlich. Die Inner Development Goals liefern hierfür einen passenden Orientierungsrahmen.
Indem wir leibliches Erleben mit innerer Reifung verbinden, ermöglichen wir nicht nur ein neues ganzheitliches Selbstverständnis des Menschen und seines Lernens, sondern auch den Aufbau einer kooperativen, mitfühlenden und zukunftsfähigen Gesellschaft.